Justine Kurland ist eine New Yorker Künstlerin, deren umfangreiches Werk viele klassische Sehnsüchte der Fotografie erfüllt, während sie gleichzeitig die männlich geprägte Fotowelt radikal in Frage stellt.
Bekannt wurde sie mit der Serie „Girl Pictures“, zunächst 2001 in „Spirit West“ veröffentlicht und 2020 von Aperture in einem umfangreichen Band neu aufgelegt. Die Bilder zeigen amerikanische Landschaften und Vororte, sorgfältig mit Mittelformat (später Großformat) aufgenommen, wie man es von Stephen Shore oder Joel Sternfeld kennt. Aber etwas ist anders: junge Frauen bevölkern diese Landschaft, alleine oder in Gruppen streunen sie herum, sich selbst genügend. Nur manchmal finden sie einen Jungen, den sie ärgern können.
Die mit Laien inszenierten Bilder erscheinen auf den ersten Blick cinematisch, wie ein Standbild aus einem Dokumentarfilm. Die Grenze von Fiktion und Dokumentation wird gekonnt überschritten, die Jugendlichen wirken echt und ihre Inszenierungen selbstgewählt.
2004 wird Justine Kurland Mutter, und führt ihre fotografischen Roadtrips fort, jetzt mit einem Kindersitz im Van, vom Sohn „Mama Car“ getauft. Es ist spannend, wie das Thema Mutterschaft und die Beziehung zu ihrem Sohn in die Road-Trip Mythologie integriert wird und diese verwandelt. In der Serie Mama-Babies (2004-2007) fotografiert sie Gruppen von Müttern in der amerikanischen Landschaft. Oft sind sie nackt und erinnern an Nymphen in der Malerei oder eine Kommune von lesbischen Separatistinnen, sie sind fröhlich und vaterlos für sich mit ihren Kindern. Sie scheinen einem etwas bewölkten Paradies entsprungen. Justine Kurland akzeptiert die Grenze, die stillschweigend um Mütter und Kunst gezogen wird, ganz offensichtlich nicht.
Weil ihr Sohn Casper Züge mag, fotografiert sie diese in der weiten amerikanischen Landschaft. Oft müssen sie einen Tag lang auf den Zug warten, und in einem Bild sieht man Casper im Vordergrund mit seinem Spielzeugzug. Sie fühlt sich der Straße verbunden, und den Menschen, denen sie auf ihr begegnet, für die oft das Auto oder der Wohnwagen das letzte Zuhause ist. Ihr Buch „Highway Kind“ erscheint 2016. Ihre Fotografie wird hier deutlicher dokumentarisch. Zum ersten Mal fotografiert Justine Kurland auch Männer und den maskulinen Mythos der Straße. Man sieht sie in Werkstätten, uralte Autos reparierend, darunter auch das in die Jahre gekommene Mama Car, und die Verbindung, die sie zu den Fahrzeugen haben, ist in ihren ölverschmierten Händen greifbar. Sie fotografiert die Menschen, an denen andere vorbeisehen, mit einer Art des Wiedererkennens.
In Justine Kurlands Bildern gibt es Themen, die sich wiederholen. Die Landschaftsdarstellungen sind sorgfältig komponiert und großformatig. Sie erinnern an die Romantik, wenn das Licht schön ist. Es ist immer Platz für einen Teich im Hintergrund, einen anmutigen Baum, etwas Streiflicht. Justine sagt von sich selbst, wie wichtig ihr die Malerei und der Besuch in Museen ist, ebenso wie Märchen und Sagen. Oft sind die Personen recht klein in der weiten Landschaft, sie durchstreifen das Bild eher als dass sie posieren. Ohnehin sind die Menschen häufig in Bewegung, in kleinen Gesten ergreifen die jungen Streunerinnen in Girl Pictures eine Blume, ein Kleidungsgstück, sie berühren die eigene Haut oder die der anderen. Die Erzählweise ist auf beiläufige Weise intim. Es ist erstaunlich, und macht den besonderen ästhetischen Reiz aus, dass die Bilder mit der präzisen und aufwendigen Technik der analogen Mittel- und Großformatkamera aufgenommen sind.
Andererseits können die Landschaften auch mal struppig sein. Amerikas Hinterland: etwas New Topographics, etwas Wasteland. Genauso ist es mit den Menschen. Die elfenhaft nackten Hippiemütter aus Mama-Babies, der von Drogen gezeichnete Mann aus Highway Kind, die unbeaufsichtigten Mädchenbanden aus Girl Pictures bevölkern ein Universum, das man als Gemeinschaft der Ausgesetzten bezeichnen könnte, so als wären sie einem Auto entstiegen, das ohne sie weitergefahren ist, vielleicht wollten sie auch gar nicht mehr mitfahren, und das war der Anfang. Und jetzt machen sie das Beste daraus. Zuhause sein ist in dieser Welt kein „Schöner Wohnen“, es bleibt ein Zelt oder ein Fahrzeug, ein Feuer und ein paar Snacks, eine Berührung.
Damit zeigen die Bilder alternative Lebensentwürfe. Sie sind in der Serie politischer, als man es bei der Betrachtung des Einzelbildes vermuten würde. Ein Blick des Mitgefühls mit dem Unangepassten durchzieht sie, der Justine Kurland ganz eigen ist. Die Bilder glorifizieren Amerika nicht, aber sie sind auch nicht melancholisch oder beziehungslos. Justine Kurland lebt selbst im Van in den Monaten auf Reisen, sie erzählt, wie eine andere Mutter auf dem Spielplatz ihr Kind zurückzieht, weil sie denkt, Justine und ihr Sohn Casper seien obdachlos. Für Casper ist es normal, dass seine Mutter ihre Filme auf der Toilette bei MacDonalds einlegt. Als Casper in die Grundschule kommt, ist dieser Teil seiner Kindheit zu Ende und ein sesshafteres Leben beginnt für Beide.
Justine Kurlands neueste Arbeit wendet sich ab von der kamerabasierten Fotografie. In SCUMB – Society for cutting up Men’s Photobooks (2022 erschienen bei Mack) greift sie zu den über 150 männlichen Fotobuchklassikern in ihrem Regal, um diese zu zerschneiden und zu Collagen zu verarbeiten. In diesem ebenso zerstörerischen wie schöpferischem Akt wendet sie sich gegen die vom männlichen Kanon und männlichen Professoren geprägte fotografische Ausbildung und Fotogeschichte. So beginnt ihr Manifest : „ I, JUSTINE KURLAND, AM SCUMB. I THRIVE IN THE STAGNANT WASTE OF YOUR SELF-CONGRATULATORY BORING PHOTOGRAPHY“. Ihr Bezug zum berühmten SCUM Manifest, ein früher radikal-feministischer Text von Valerie Solanas aus dem Jahr 1967, ist deutlich.
Die entstehenden Collagen sind Unikate, die ursprünglich für sagenhaft günstige 900 Dollar das Stück verkauft wurden. (Zitat „meine Studierende sollten sich auch mal ein Bild leisten können“). Die betroffenen Fotografen hatten übrigens ein Vorkaufsrecht, von dem aber keiner Gebrauch machte. Die Collagen selbst sind erstaunlich filigrane, anmutige Objekte, die an Scherenschnitte, Blüten und die weibliche Anatomie erinnern. Manche sehen aus wie eine Masse sich umschlingender Frauen, wenn ein besonders aktlastiger Band an der Reihe war. Auch die Seiten der Bücher, aus denen Justine Kurland mit ihrem Skalpell sorgfältig die Formen herausgetrennt hat, werden zu Wandobjekten. Sie wirken wie Räume, als ob man mit dem Blick durch sie hindurchsteigen könnte, um in den Leerräumen gleich einer Detektivin auf Spurensuche zu gehen. Die entstandenen Freiräume ihrer Bibliothek füllt Justine Kurland mit Büchern von weiblichen und queeren Fotograf*innen auf.
Justine Kurlands Arbeit wurde in Deutschland bisher wenig gezeigt. Jetzt sind sie in zwei Ausstellungenzu sehen:
„Highway Kind“ in der Ausstellung “Alle Wege sind offen – Fotografinnen auf Reisen“ im Kunstforum Herrmann-Stenner, Bielefeld 25.3.-13.8. 2022
„The Pages of SCUMB Manifesto“ Kunstraum Elsa, Bielefeld, 30.3.-20.4. 2022
Justine Kurland wurde 1969 in Warsaw, NY geboren. Sie erhielt ihren BA an der School of Visual Arts und ihren MA an der Yale University. Ihre Arbeit ist u.a. in den Sammlungen des Whitney Museum of American Art, New York; the Solomon R. Guggenheim Museum of Art, New York und des ICP.
Katharina Bosse, veröffentlicht in Photonews 3/23